Es möcht kein Hund so länger leben! Faust. Frühe Fassung, Szene Nacht
Die Religionsethnologie und die Vergleichende Religionswissenschaft liefern eine Fülle an Literatur, die sich mit der Magie schriftloser, sogenannter 'primitiver' Kulturen bis hin zu den in den 'Hochreligionen' enthaltenen Elementen magischer Praxis beschäftigen. Obwohl die Ethnologen auf eine relativ junge Geschichte ihrer Disziplin zurückblicken, stellt sich ihnen mit Evolutionismus, Strukturalismus, Funktionalismus u.a. eine vielfältige Methodengeschichte dar. Dabei wurde die Magie oft - in den Anfängen fast ausschließlich, in jüngerer Zeit weniger - vom Standpunkt der industrialisierten Zivilisation bzw. des Christentums aus betrachtet. Daraus resultierten immer wieder Wertungen, die zu der höchst zweifelhaften Unterscheidung zwischen 'Glaube' (Christentum) und 'Aberglaube' (Magie) führten. Die Aufarbeitung einer Geschichte der 'Magieforschung' kann jedoch in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden. Neben ethnologischer Fachliteratur gibt es eine unüberschaubare Anzahl an Veröffentlichungen zum Thema 'Hexen', in der sich ebenfalls eine lange Ideologiegeschichte widerspiegelt. Auch dies konnte nicht berücksichtigt werden, so daß hier im wesentlichen auf das Buch Zauberei und Hexenwerk von Eva Labouvie zurückgegriffen wurde, die ältere Ansätze kritisch aufgreift und ausführlich über die sogenannte 'Volksmagie' informiert. Weiteres liefern ein Aufsatz von Richard van Dülmen, "Imaginationen des Teuflischen", und Magie im Mittelalter von Richard Kieckhefer. Speziell zum Themenkomplex 'Pansophie' liegt von Will-Erich Peuckert ein gleichnamiges, aus den 30er bis 60er Jahren stammendes und drei große Bände umfassendes Werk vor, welches in der vorliegenden Arbeit, ergänzt durch Arbeiten Kurt Goldammers sowie durch Quellen von Theophrastus Paracelsus und Agrippa von Nettesheim, benutzt wird. Es handelt sich bei diesem ersten Teil der Arbeit keinesfalls um eine ausführliche und vollständige Einführung in die Thematik 'Magie'. Das Kapitel beschränkt sich vielmehr auf die Aspekte, die für die Themenstellung relevant sind, die sich also im Faust wiederfinden. Insbesondere die historische Darstellung ist nur ein kleiner Ausschnitt, aber auch der gebotene Querschnitt daraus umfaßt längst nicht alles, wenngleich vieles Erwähnung findet. Der diesem Kapitel folgende Teil, "Der historische Faust und die Magie", beschäftigt sich in einer knappen Darstellung mit der 'wahren' Faustgestalt und ihrer Beziehung zur Magie, wobei es sehr schwierig ist, die historische Person aus der Sage 'herauszufiltern'. Die ältere Literatur zeigt sich dabei sehr unkritisch den Quellen gegenüber, als Beispiel sei hier nur Carl Kiesewetters Faust in der Geschichte und Tradition aus dem Jahre 1893 genannt. Aber auch neueste Literatur kommt - gerade wegen der dürftigen und unsicheren Quellenlage - nicht ohne Spekulation aus. Daher beschränkt dieses Kapitel sich auf das Nötigste, wobei es im wesentlichen dem Werk Faust. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens von Günther Mahal, dem Gründer und Leiter des Faust-Museums Knittlingen, folgt, außerdem den Herausgebern der kritischen Historia-Ausgabe, Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Das Kapitel "Die Bedeutung der Magie in Goethes Faust" schließlich behandelt mit Berücksichtigung des Urfaust und des Fragmentes die Szenen des Faust I, in denen die Magie eine inhaltliche oder dramaturgische Bedeutung hat. Am Anfang eines jeden Abschnitts steht eine knappe inhaltliche Darstellung, die die Integration der Magie in die Handlung deutlich machen soll. Dem Überblick folgt eine Erläuterung im Sinne der Themenstellung. In diesem Teil der Arbeit soll zum Vergleich mit Faust I der Urfaust herangezogen werden, sofern sich dies anbietet. Ein solcher Vergleich hilft durch die Unterschiede der beiden Fassungen, die Entwicklung bestimmter Entwürfe und Motive nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, wie Goethe bestimmte Auffassungen über seinen Faust geändert hat. Ein Vergleich zwischen Faust I und dem Urfaust oder überhaupt die interpretierende Beschäftigung mit dem Urfaust kann natürlich nur unter Vorbehalten geschehen. So muß davon ausgegangen werden, daß der Text, von Luise von Göchhausen "mit oder ohne Erlaubnis des Dichters copirt" (1), lediglich eine Rohversion darstellt, einen "jugendliche[n] Torso" (2). Falls Luise von Göchhausen überhaupt alle bis dahin von Goethe verfaßten Blätter zum Faust zur Verfügung standen, so ist anzunehmen, daß sie z.T. Entwürfe beiseite ließ. (3) Des weiteren ist der Urfaust nach Meinung Robert Petschs nicht Goethes Versuch eines bereits in sich abgeschlossenen Dramas, sondern nur die Sammlung der zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden (bzw. zur Verfügung stehenden) Fragmente, die noch dazu in einem unterschiedlichen Grad be- und überarbeitet waren. (4) Ulrich Gaier bezeichnet den Urfaust in seinem Kommentar als "in hohem Maße fragmentarisch" (5). Obschon sich der Wortlaut des Urfaust zu großen Teilen unverändert in Faust I wiederfindet, ist weiterhin zu berücksichtigen, daß diese Textstellen in Faust I z.T. in einen neuen Zusammenhang gebracht werden, also oft anders zu interpretieren sind als im Urfaust. Albrecht Schöne geht von zwei möglichen Lesarten des Urfaust aus: zum einen die einer unfertigen, lückenhaften Vorstufe zum späteren Faust I, zum anderen die eines eigenständigen, fragmentarisch gebliebenen Dramas, das auch ohne Kenntnis der späteren Fassung zu verstehen und zu interpretieren ist. (6) Auch das Faust-Fragment soll stellenweise, da es zeitlich zwischen dem Urfaust und Faust I steht, in diesen Vergleich mit einbezogen werden. Die vorliegende Arbeit wird zu zeigen versuchen, daß die Magie ein zentrales Motiv in Goethes Faust I ist. Wie aber spiegelt sich ihre Bedeutung in der Faust-Literatur
wider? Agnes Bartscherer führt in ihrem 1911 erschienenen Buch Paracelsus, Paracelsisten und Goethes Faust sämtliche Gestaltungsformen der Magie auf Theophrastus Paracelsus, den Zeitgenossen Fausts, zurück, in dem sie Goethes großes Vorbild für dessen Faust-Figur sieht. In diesem Zusammenhang nimmt sie an, daß alles, was die Magie im Faust betrifft, bereits in frühester Zeit von Goethe konzipiert und festgelegt worden sei. Dabei liefert Bartscherer eine Untersuchung des inhaltlichen Magie-Begriffs in Goethes Faust, wie es sie merkwürdigerweise - denn das Thema liegt eigentlich nahe - nicht viele gibt. So gilt für eine hunderte, ja tausende von Titeln umfassende Faust-Bibliographie
immer noch, was Wilhelm Resenhöfft im Jahre 1973 schrieb: "Sie hat das Thema niemals seiner Bedeutung entsprechend zentral behandelt; Zeugnis dessen sind die wenigen und knappen Aufsätze, die in der Faust-Bibliographie unter »Magie« verzeichnet sind." (7) Lediglich verstreute Absätze finden sich, bis auf wenige Ausnahmen. Albrecht Schöne beschäftigte sich 1982 (inzwischen in einer ergänzten 3. Auflage 1993) in einem umfangreichen Kapitel seines Buches Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult mit der Magie in der Szene »Walpurgisnacht«, und Ulrich Gaier interpretiert den Urfaust im ersten Band seines Faust-Kommentars von 1989 ganz aus der Perspektive der Magie heraus. Seine Ergebnisse lassen sich weitestgehend auf Faust I übertragen. Für den zweiten Band des Faust-Kommentars darf eine ähnliche Perspektive der Betrachtung und Deutung erwartet werden. Gaiers Kernthese ist der Gegensatz der Magie des 16. Jahrhunderts zu der des 18. Beide Formen wendet Faust an und scheitert an ihrer Unvereinbarkeit.
Die aktuellste Veröffentlichung zum Faust ist der Kommentarband der Frankfurter Ausgabe von 1994, verfaßt durch den Göttinger Emeritus Albrecht Schöne. Dieses umfassende, in seiner Ausführlichkeit wie Gründlichkeit wohl einzigartige Kommentarwerk zum Faust nimmt zwar nicht die Perspektive der ">magische[n]< Lesart" (9) Ulrich Gaiers ein, läßt aber die nötigen Hinweise und stellenweise auch ausführliche Darstellungen nicht vermissen. Ergänzt werden die Ausführungen Schönes hier durch die oft hilfreichen Anmerkungen von Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe, die seit Jahrzehnten die maßgebliche Goethe-Werkausgabe ist, wenngleich der Kommentarteil gegenüber dem der neuen Frankfurter Ausgabe verschwindend gering erscheint. Das Übrige zum Thema besteht aus verstreuten Bemerkungen im Rahmen anderer Fragestellungen. Was nahezu alle erwähnten Arbeiten über Faust jedoch vermissen lassen, ist eine systematische Annäherung an den Magie-Begriff, der durchaus nicht als ein einheitlicher auftritt - auch im Faust nicht. Hierzu ist es nötig, Historiker, Volkskundler und Religionswissenschaftler zu bemühen. Ebensowenig Berücksichtigung findet die Einbeziehung des 'dramaturgischen Elements Magie': Die Magie ermöglicht Handlungen und Ereignisse, die rational nicht möglich wären; Personen können auf geheimnisvolle Weise Entfernungen zurücklegen, Verwandlungen erleben oder Dinge erfahren, die die 'rationalen Ereignisse' des Dramas entscheidend beeinflussen. Schon die Grundkonstellation zwischen Protagonist und Antagonist wird davon berührt: die Vorstellung von der 'Leibhaftigkeit' des Teufels und von der Möglichkeit, mit diesem einen Pakt zu schließen. Das initialisierende Moment des Dramas ist in Faust I nicht der im Monolog dargelegte Erkenntnisdrang Fausts, sondern die Wette zwischen dem Herrn und Mephisto. Wegen dieser Wette sucht Mephisto den Pakt mit Faust. Die Magie erschließt einen ganzen Kosmos von Möglichkeiten. Der Dichter kann sie nicht nur dort ins Spiel bringen, wo sie ihm inhaltlich geboten scheint, sondern auch als 'Kunstgriff' verwenden, wo die Handlung sonst ins Stocken geriete oder logisch einen anderen Verlauf nehmen müßte. Auch in Faust II kommt Magie vor. Hier verschwimmen - im Unterschied zum ersten Teil - die Grenzen zwischen magischen und 'rationalen' Handlungen Fausts zunehmend. Immer mehr wendet Faust selbst die Magie an, um seine Ziele zu erreichen; der ganze zweite Teil der Faust-Dichtung ist davon durchzogen. Dabei nimmt die Magie eine immer weniger herausragende Stellung ein. Wo sie auftritt, ist sie nicht mehr etwas Besonderes gegenüber anderen Handlungsmöglichkeiten. Goethes Faust unter dem Aspekt der Magie zu betrachten, ist natürlich nur eine Perspektive unter vielen, und die Ausschließlichkeit, mit der diese Perspektive in der vorliegenden Arbeit eingenommen wird, soll keinesfalls eine ausschließliche Gültigkeit gegenüber anderen Perspektiven vortäuschen. In der Faust-Literatur gibt es eine Fülle anderer Deutungsansätze, z.B. entstehungsgeschichtliche, werkimmanente,
die Unterscheidung zwischen 'Gelehrten'- und 'Gretchentragödie' und - was mir besonders kurios anmutete - den soziologischen Deutungsansatz Wilhelm Resenhöffts, Goethes Rätseldichtungen im «Faust», worauf an einigen Stellen hingewiesen werden wird. Nahezu alle Ansätze der Faust-Forschung liefern überzeugende Argumente, enthalten aber auch ungelöste Widersprüche. Eine Kombination verschiedener Deutungsansätze kann sicher eine umfassende und
widerspruchsfreie Deutung des Faust liefern, ohne gezwungen oder wie Stückwerk zu wirken. Dabei sollte man allerdings berücksichtigen, daß u.U. der Faust selbst nicht einheitlich und widerspruchsfrei angelegt, wenn überhaupt vollendet ist. |